Karin Sternberg über die wenig bekannte Hilfe namens Beckenboden-Physiotherapie
Veröffentlicht von Saskia Scheibel im Januar 2025
Karin Sternberg: Beckenbodenphysiotherapeutin zu Inkontinenz in den Wechseljahren
Karin Sternberg hat mehr als 30 Jahre Erfahrung als Phyiotherapeutin und über 10 Jahre Erfahrungen im Bereich der Beckenboden Physiotherapie. Sie hat ihre Ausbildung bei der Arbeitsgemeinschaft Urologie-Gynäkologie-Geburtshilfe und Proktologie des Verbandes Physio Deutschland absolviert (weitere Informationen unter www.ag-ggup.de). Zusätzlich hat sie eine Ausbildung im Junginger-Baessler-Konzept abgeschlossen, das besonders den Einsatz von Ultraschall als Biofeedback in der Inkontinenz-Rehabilitation fördert. Weitere Fortbildungen absolvierte sie zu Themen wie Endometriose, Vaginismus und männliche Inkontinenz, um ihr Fachwissen auf diesen spezialisierten Gebieten kontinuierlich zu erweitern.
Beckenboden und Wechseljahre: Warum er jetzt besonders wichtig ist
Der Beckenboden wird durch verschiedene Faktoren beeinflusst, darunter Körpergewicht, hohe körperliche Belastung, genetisch bedingtes Bindegewebe, chronische Erkrankungen wie Asthma und andere Begleiterkrankungen. Viele Frauen werden erst während der Schwangerschaft oder nach der Geburt auf ihren Beckenboden aufmerksam, weil die Belastung während dieser Zeit, kombiniert mit möglichen Geburtsverletzungen, die Beckenbodenmuskulatur besonders schwächen kann. Daher nehmen viele Frauen Rückbildungskurse zur gezielten postnatalen Beckenbodenstärkung in Anspruch.
In den Wechseljahren sorgt der Rückgang von Östrogen für eine zusätzliche Schwächung von Beckenboden, Schließmuskel und Bindegewebe. Dies kann zu Belastungsinkontinenz (Urinverlust bei Husten, Gehen oder Lagewechsel) oder Dranginkontinenz (starker Harndrang trotz geringem Harnvolumen) führen. Bei letzterer liegt häufig eine Störung der Nervenimpulse im Blasenmuskel vor, die durch Östrogenmangel, Stress, neurologische Erkrankungen oder Organsenkungen begünstigt wird.
Viele Frauen, die sich in der Perimenopause oder den Wechseljahren befinden, haben die sogenannte Mischinkontinenz, eine Kombination aus Drang- und Belastungsinkontinenz. Dabei spielen oft Organsenkung und Atrophie eine Rolle, also der Rückgang von Gewebe und der Verlust an Elastizität und Kraft.
Die gute Nachricht: Gezieltes Beckenbodentraining und eine angepasste Lebensweise können viel bewirken, um die Lebensqualität zu verbessern und Beschwerden zu lindern.
Inkontinenz betrifft in Deutschland etwa 10 Millionen Menschen – mit hoher Dunkelziffer. Dranginkontinenz ist bei Frauen ab 50 Jahren ist die häufigste Form, und mit zunehmendem Alter steigt die Häufigkeit deutlich an: 22 % der Frauen zwischen 65 und 79 Jahren und 48 % der Frauen ab 80 Jahren sind betroffen.
Analyse, Diagnose und individuelle Therapie
Für eine funktionierende Beckenbodenmuskulatur sind sowohl eine gute nervale Ansteuerung als auch die Einbindung in die Körperstatik, also Haltung und Bewegung, entscheidend. Um die Funktionalität des Beckenbodens zu beurteilen, betrachte ich als Physiotherapeutin nicht nur die Muskulatur selbst, sondern auch die umliegenden Strukturen.
Da jede*r – unabhängig von Alter oder Geschlecht – eine Beckenbodenmuskulatur hat, wird auf Basis einer ausführlichen Anamnese und Untersuchung ein individueller Therapieplan erstellt. Dieses Vorgehen ist die Grundlage für eine gezielte und effektive Behandlung.
Warum Tast- und Ultraschalluntersuchungen entscheidend sind
Ich biete jeder Frau eine vaginale Tastuntersuchung (vaginale Palpation) und eine Ultraschalluntersuchung des Beckenbodens an, um die Muskulatur besser einschätzen zu können. Diese beiden Untersuchungen ermöglichen es der Patientin, die Anspannung und Entspannung des Beckenbodens visuell wahrzunehmen. Sowohl die vaginale Palpation als auch der Ultraschall als Biofeedback-Instrument sind Privatleistungen und müssen gesondert honoriert werden. Die anschließenden physiotherapeutischen Maßnahmen können über ein Rezept mit ärztlicher Verordnung abgedeckt werden.
Nur durch eine vaginale Tastuntersuchung kann ich die Anspannung des Beckenbodens ertasten und ohne diese Untersuchungen fehlen mir wichtige Informationen über die Muskelanteile und die Grundspannung. Wenn Frauen diese Untersuchungen ablehnen, bleibt nur die äußere Diagnostik, die den Lerneffekt und die Wahrnehmung für die Patientin nicht ausreichend berücksichtigt. Viele Frauen benötigen zunächst einen Zugang zu ihrer Muskulatur, was aus meiner 10-jährigen Erfahrung nur durch Tasten, Wahrnehmen, Atmung und Spüren möglich ist.
Neben der Tastuntersuchung setze ich auch Ultraschall ein, um visuell zu zeigen, wie der Beckenboden arbeitet. So kann ich individuell Rückmeldung geben, ob die Muskelspannung physiologisch ist.
Die Therapie dauert bei mir 50 Minuten und ist immer eine Doppelbehandlung. Das muss auf dem Heilmittelrezept so vermerkt sein. In der Therapie bekommt die Patientin einen individuellen „Fahrplan“, was ich ihr auch nach der Therapie für ihre Beckenbodengesundheit rate und wie sie gegebenenfalls ihren Lebensstil ändern könnte. Ich betone dies stark, , weil es eine lebenslange Veränderung bzw. ein neu zu erlernendes Verhalten im Alltag bedeutet... Ich mache dazu praktische Vorschläge. Die Entscheidung liegt bei der Frau.
Beckenbodentraining: Ein Muss für jede Frau – auch schon vor den Wechseljahren
Die Menopause ist ein natürlicher Übergang im Leben einer Frau – keine Krankheit. Harninkontinenz hingegen ist eine Erkrankung, die nicht zwangsläufig mit den Wechseljahren einhergeht. Zwar können hormonelle Veränderungen eine Rolle spielen, doch die Ursachen sind vielfältig. Es ist wichtig, aktiv zu werden und konservative Möglichkeiten wie Beckenbodentherapie auszuschöpfen.
Beckenbodentraining fördert nicht nur die Kontinenz, sondern stärkt auch die Stabilität des gesamten Rumpfes. Dabei ist sowohl die Anspannung als auch die Entspannung der Muskulatur entscheidend. Durch gezieltes Training kann diese Fähigkeit in den Alltag integriert werden – etwa beim Aufstehen oder Hinsetzen. Jede Frau sollte ihre Gesundheit selbst in die Hand nehmen und die passenden Lösungen für sich finden. Es lohnt sich, früh mit Beckenbodentraining zu starten – für mehr Lebensqualität und Prävention.
Eine bewusste Integration des Beckenbodentrainings in den Alltag und gezielte Anpassungen im Lebensstil helfen, dem natürlichen Abbauprozess entgegenzuwirken.
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Ein Beispiel: Vor dem Husten den Beckenboden anspannen und den Oberkörper leicht gedreht nach hinten strecken. Dies stabilisiert den Druck im Bauchraum und die Faszienkette.
Beckenboden: Sensibilisierung und Unterstützung
Die gezielte Aktivierung der Muskulatur rund um den Beckenboden spielt eine entscheidende Rolle: Während die unteren Bauchmuskeln den Beckenboden stabilisieren, können die oberen geraden und schrägen Bauchmuskeln ihn belasten. Gemeinsam mit den Betroffenen identifiziere ich, welche Muskelgruppen stützen und welche Druck auf den Beckenboden ausüben. Übermäßiger Druck entsteht oft durch dauerhaftes Einziehen des Bauches, flache, gepresste Atmung oder zu viel Spannung im Kiefer.
Ein gesunder Beckenboden sollte sich gut an- und entspannen können – auch unwillkürlich, etwa beim Husten. Für die Sexualität ist diese Funktion ebenfalls essenziell: Eine gute Durchblutung und die Beweglichkeit des Beckenbodens fördern die Befeuchtung der Vaginalschleimhaut und tragen zu einem erfüllten Sexualleben bei.
Neben Übungen gibt es medikamentöse Optionen wie die lokale Anwendung von Estriol, das vaginale Beschwerden und Symptome des unteren Harntrakts lindern kann. Dies sollte mit der Gynäkologin besprochen werden.
Zusätzlich können durch ein Miktionsprotokoll Toilettengewohnheiten verbessert werden. Methoden wie Elektrotherapie oder Biofeedback bieten zusätzliche Unterstützung und ermöglichen gezieltes Training auch zu Hause (nach ärztlicher Verordnung).
Eine Frau kam vor einigen Jahren in meine Praxis, die mir versicherte, seit fünf Jahren regelmäßig Beckenbodenübungen zu machen. Sie zeigte mir ihre Übungen, und ich fragte sie, wo genau sie die Beckenbodenmuskulatur in ihrem Körper spüren könne. Sie zeigte auf ihr Gesäß und sagte, dass sich die Beckenbodenmuskulatur dort und um die Harnröhre herum befände. Es stellte sich heraus, dass sie in den letzten fünf Jahren vor allem die untere Rumpfmuskulatur gestärkt hatte, was grundsätzlich gut ist. Doch die eigentliche Beckenbodenmuskulatur war dabei nicht richtig integriert.
Tipps für einen starken Beckenboden
Bewegung und Sport
Ich empfehle, eine Bewegungsform zu wählen, die Spaß macht und langfristig beibehalten wird – sei es Schwimmen oder ein flotter Spaziergang. Sportarten mit hoher Belastung, wie Joggen oder CrossFit, sollten nur dann ausgeübt werden, wenn bereits Erfahrung vorhanden ist. Diese sollten mit Beckenbodenan- und -entspannung kombiniert und starke Drücke abgefedert werden, wobei die richtige Atemtechnik eine wichtige Rolle spielt. Professionelle Anleitung ist hier entscheidend.
Moderates Krafttraining ist in den Wechseljahren für die Osteoporoseprophylaxe wichtig und sollte ebenfalls auf die Beckenbodenaktivität abgestimmt werden. Eine Beckenbodenphysiotherapeutin kann wertvolle Beratung zu Übungen geben.
Ernährung
Für das Gewebe und die Blasenschleimhaut ist ausreichend Trinken (mindestens 1,5 bis 2 Liter täglich) entscheidend. Am besten sind stilles Wasser, Kräutertees oder verdünnte Saftschorlen. Koffein, Kohlensäure, Alkohol und saure oder scharfe Lebensmittel können die Blase reizen.
Wahrnehmung
Auf der Toilette sollte man entspannt „laufen lassen“, um den Beckenboden nicht zu belasten. Beim Stuhlgang ist eine Hockposition optimal, um den Beckenboden zu entlasten. Ein einfaches Biofeedback-Instrument ist der eigene Finger. Durch das Umschließen und Anheben des eingeführten Fingers mit der Beckenbodenmuskulatur kann die Wahrnehmung geschult und der Beckenboden trainiert werden. Auch das Betrachten der Vulva im Handspiegel hilft dabei, die Muskulatur zu aktivieren und ein besseres Körpergefühl zu entwickeln.
Beckenbodentherapie: Schritte zur Verbesserung und Stabilisierung
Die Arbeit am Beckenboden erfordert Fachwissen, Einfühlungsvermögen und gleichzeitig professionelle Distanz. Besonders in den Wechseljahren treten oft lang bestehende Leidensgeschichten oder Geburtsverletzungen zutage, die zu Inkontinenz führen. Viele Frauen haben Angst vor sozialer Ausgrenzung und belastende Gedanken wie „die Inkontinenz wird nie verschwinden“ oder „ich rieche“. Auch der Verlust von Urin beim Geschlechtsverkehr oder die ständigen Gedanken an „die Toilette“ sind stressige Faktoren.
Mein Ziel ist es, dass jede Frau mit einem positiven Gefühl aus der Therapie geht. Auch wenn kein Heilversprechen gegeben werden kann, strebe ich stets eine Verbesserung an. Ich möchte den Frauen mehr Wissen über ihren Körper vermitteln, sie stärken und ihre Bedürfnisse ernst nehmen.
Ich bin ein Baustein in der Kontinenztherapie. Die Patientin hat in der Regel schon ärztliche Untersuchungen hinter sich, sei es beim Hausarzt oder Facharzt (Urologe, Gynäkologe oder Urogynäkologe) oder in einem Beckenbodenzentrum. Die Physiotherapie ist Teil der konservativen Therapie, ergänzend dazu können Medikamente, Elektrotherapie oder Pessare (Stützelemente) verordnet werden. Auch psychologische Unterstützung kann hilfreich sein.
Es gibt immer Möglichkeiten zur Verbesserung und Stabilisierung – Aufgeben ist keine Option! Einige Patientinnen kommen regelmäßig zurück, um den Fortschritt zu überprüfen und weiter an kleinen Defiziten zu arbeiten. Dranbleiben lohnt sich!
Geschrieben von Praxis für Physiotherapie
Karin Sternberg
www.sbs.berlin
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