Wenn der Darm plötzlich zickt – warum Frauen ab 40 besonders betroffen sind
Veröffentlicht von Saskia Appelhoff im Juli 2025
Verdauungsprobleme in den Wechseljahren? Für viele Frauen ab 40 ist das plötzlich Realität – selbst wenn der Darm jahrzehntelang problemlos funktionierte. Warum aber reagieren so viele weibliche Körper in dieser Lebensphase besonders sensibel? Und welche Rolle spielen Hormone, Ernährung und das Mikrobiom dabei? Im Gespräch mit Prof. Dr. med. Seiderer-Nack, Fachärztin für Innere Medizin und Ernährungsmedizin, wird deutlich: Darmbeschwerden sind bei Frauen kein Einzelfall – sondern häufig das Ergebnis hormoneller Umstellungen, die weit über das klassische „Reizdarmsyndrom“ hinausgehen. Sie erklärt, warum viele Betroffene sich von der Schulmedizin nicht ausreichend verstanden fühlen und wie eine individuelle, zyklusbezogene und alltagstaugliche Begleitung aussehen kann.
Welche Veränderungen im Darm und Verdauungssystem beobachten Sie besonders häufig bei Frauen ab 40, und warum sind sie stärker betroffen als Männer?
Zunächst einmal: Es sind deutlich mehr Frauen als Männer von Darmproblemen betroffen. Auffällig ist dabei, dass viele Frauen ab etwa 40 ihren Darm plötzlich als deutlich sensibler oder „zickiger“ erleben. Selbst Frauen, die zuvor keine nennenswerten Beschwerden hatten, berichten plötzlich häufiger über Verstopfung oder ein anhaltendes Völlegefühl.
Auch bei Frauen, die bereits vorher an chronischen Darmerkrankungen wie dem Reizdarmsyndrom litten, kann sich die Symptomatik in dieser Lebensphase nochmals verstärken. Dabei beobachten wir nicht nur vermehrt Motilitätsstörungen – also etwa eine verlangsamte Darmtätigkeit – sondern auch Veränderungen des Mikrobioms. Hinzu kommt, dass viele Frauen in diesem Alter neue Nahrungsmittelunverträglichkeiten oder Pseudoallergien entwickeln.
Ein besonders auffälliges Beispiel: Etwa 80 % aller Menschen mit einer Histaminintoleranz sind weiblich und über 40. Das zeigt, dass wir es hier mit einer klar umrissenen Gruppe zu tun haben, bei der zahlreiche Veränderungen im Verdauungssystem auftreten.
Wie sieht die typische Diagnostik bei Darmbeschwerden aus – und warum fühlen sich viele Frauen in der hormonellen Umstellungsphase dabei oft nicht richtig verstanden?
Der klassische Weg sieht meist so aus: Man geht zunächst zum Hausärzt:in, die einen dann zum Gastroenterologen überweist. Dort werden in der Regel eine Magen- und Darmspiegelung durchgeführt, Blutwerte kontrolliert und vielleicht noch ein Ultraschall gemacht. Am Ende heißt es dann oft: "Alles unauffällig, wir konnten nichts finden – der Darm ist organisch gesund." Die Diagnose lautet schließlich Reizdarm, verbunden mit dem Rat, mehr auf Stress, Ernährung und Lebensstil zu achten.
Für viele Frauen ist das jedoch frustrierend – nicht nur, weil die Beschwerden bleiben, sondern auch, weil sie sich in ihrer hormonellen Umstellungsphase überhaupt nicht wahrgenommen fühlen. Ihre persönliche Geschichte wird häufig ausgeblendet. Dabei spielen Faktoren wie vorangegangene Geburten oder Beckenbodenschwächen durchaus eine Rolle bei Darmbeschwerden.
Das große Ganze wird viel zu selten betrachtet – der Körper, der sich verändert, der Einfluss hormoneller Umstellungen auf den Verdauungstrakt. Viele Frauen haben das Gefühl, mit dem Hinweis auf „Stress“ abgespeist zu werden, obwohl hinter ihren Beschwerden oft weit komplexere Zusammenhänge stecken, die wir bisher zu wenig verstanden oder beachtet haben.
Gerne, dann steigen wir tiefer ein: Was löst der hormonelle Wechsel im Körper wirklich aus?
Das Thema ist ziemlich komplex. Zum einen verändern sich in den Wechseljahren die Hormone – insbesondere die weiblichen Sexualhormone Östrogen und Progesteron – und diese haben nachweislich Einfluss auf den Darm und seine Beweglichkeit. Wir beobachten häufig, dass ein Anstieg des Progesteronspiegels bei gleichzeitigem Absinken des Östrogenspiegels dazu führt, dass sich die Transportgeschwindigkeit im Darm verlangsamt. Das kann zu träger Verdauung, Verstopfung, Völlegefühl und Blähungen führen. Diese Symptome treten besonders oft in Kombination mit Beckenbodenschwächen auf, was die Beschwerden zusätzlich verstärken kann.
Ein zweiter spannender Aspekt ist die Veränderung des Darmmikrobioms. Vor der Pubertät unterscheidet sich die Zusammensetzung des Mikrobioms bei Mädchen und Jungen kaum. Doch mit Beginn der hormonellen Reifung verändert sich das deutlich: Frauen haben während ihrer fruchtbaren Lebensphase – unter dem Einfluss von Östrogen und Progesteron – ein anderes Mikrobiom als Männer. Nach der Menopause allerdings verschwindet dieser Unterschied wieder, und das Darmmikrobiom der Frau ähnelt zunehmend dem männlichen.
Gerade dieser Wandel steht aktuell stark im Fokus der Forschung. Denn mit der Veränderung des Mikrobioms verändert sich auch die Artenvielfalt der Darmbakterien und die Stoffwechselprodukte, die sie erzeugen – das sogenannte Metabolom. Diese Stoffwechselprodukte haben weitreichende Auswirkungen, etwa auf das Herz-Kreislauf-Risiko oder die Entstehung von Osteoporose. Lange nahm man an, das sei ausschließlich auf den Hormonrückgang zurückzuführen. Doch heute wird deutlich, dass das Mikrobiom eine zentrale Rolle spielt.
Das zeigt sich auch in Studien mit Transgender-Personen: Bereits zwei Wochen nach Beginn einer Hormontherapie – egal ob von Frau zu Mann oder umgekehrt – verändern sich das Mikrobiom und die Stoffwechselaktivitäten deutlich. Das legt nahe, dass hormonelle Veränderungen sehr schnell auf den Darm wirken und möglicherweise erklären, warum sich auch Gesundheitsrisiken wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen geschlechtsspezifisch verschieben.
Kurz gesagt: Die bekannten Risikofaktoren nach der Menopause – wie etwa Osteoporose oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen – hängen vermutlich nicht nur mit sinkenden Hormonspiegeln, sondern auch mit den tiefgreifenden Veränderungen im Darmmikrobiom zusammen.
Wurde in der Forschung bisher zwischen Männern und Frauen ausreichend unterschieden oder differenziert?
Ein besonders spannender Aspekt in diesem Zusammenhang ist das sogenannte „Östrobolom“ – ein Begriff, den man nicht allzu häufig hört. Gemeint sind damit bestimmte Darmbakterien, die eine besondere Funktion erfüllen. Sie produzieren spezielle Enzyme, vor allem die sogenannte Beta-Glucuronidase.
Normalerweise wird Östrogen im Körper nach seiner „Nutzung“ in der Leber abgebaut. Die Leber macht es wasserlöslich, damit es über den Darm ausgeschieden werden kann. Doch einige Bakterien im Darm können genau diesen Prozess umkehren: Sie spalten das wasserlösliche Östrogen wieder auf, sodass es erneut vom Körper aufgenommen werden kann. Das bedeutet: Anstatt ausgeschieden zu werden, gelangt das Östrogen zurück in den Blutkreislauf – was den Hormonspiegel im Körper beeinflussen kann.
Diese Fähigkeit bestimmter Bakterien, den Östrogenspiegel mitzubeeinflussen, ist nicht nur biochemisch interessant, sondern eröffnet auch therapeutische Perspektiven. So gibt es z. B. Studien aus Japan, in denen Frauen in der Perimenopause gezielt Darmbakterien verabreicht wurden, die diese enzymatische Aktivität besitzen. Das Ergebnis: Der Östrogenspiegel ließ sich damit leicht anheben.
Das zeigt, wie viel Potenzial im Mikrobiom steckt – auch im Hinblick auf hormonelle Balance in den Wechseljahren. Es könnte künftig ein Ansatz sein, hormonelle Schwankungen zumindest teilweise über gezielte Mikrobiomtherapien abzufedern.
Wenn eine Frau zu Ihnen kommt, andere Ursachen ausgeschlossen sind und Sie hormonelle Ursachen vermuten – wie gehen Sie dann vor? Wo setzen Sie an?
Zu Beginn steht immer eine ausführliche Anamnese. Uns ist wichtig zu verstehen, welche konkreten Beschwerden vorliegen – denn diese können sehr unterschiedlich ausfallen. Manche Patientinnen leiden eher unter Verstopfung, andere unter Blähungen oder dem Gefühl, kaum noch Nahrungsmittel zu vertragen.
Deshalb bitten wir die Patientin in der Regel, über einen Zeitraum von vier bis acht Wochen ein Ernährungstagebuch zu führen – idealerweise auch zyklusbezogen. So lässt sich erkennen, ob bestimmte Beschwerden mit bestimmten Lebensmitteln oder Phasen des Zyklus zusammenhängen. Dabei prüfen wir zum Beispiel auf Hinweise für eine Laktose- oder Fruktoseintoleranz oder auch auf eine Histaminintoleranz.
Gerade in der zweiten Zyklushälfte beobachten viele Frauen eine Zunahme der Beschwerden, etwa verstärkte Verstopfung – was häufig mit dem erhöhten Progesteronspiegel in dieser Phase zusammenhängt. Solche zyklusabhängigen Muster geben uns wertvolle Hinweise.
Darüber hinaus ziehen wir bei Bedarf weiterführende Untersuchungen hinzu, zum Beispiel eine Analyse des Darmmikrobioms. Bei vielen Frauen stellen wir zudem eine bakterielle Fehlbesiedlung des Dünndarms fest – den sogenannten SIBO (Small Intestinal Bacterial Overgrowth). Auch hierfür bieten wir spezielle Testverfahren an, da SIBO bei Frauen deutlich häufiger vorkommt als bisher angenommen.
Wie viel bewirkt gezielte Ernährung wirklich? Und wie steuern Sie Patientinnen dahin?
Die Ernährung hat einen enormen Einfluss auf unser Darmmikrobiom – und das bereits innerhalb von 24 Stunden. Schon kleine Veränderungen in unserer Ernährung können kurzfristig deutliche Effekte auf die Zusammensetzung der Darmflora haben. Langfristig lässt sich dadurch die Artenvielfalt der Darmbakterien gezielt fördern – ein Aspekt, der besonders in der Perimenopause und Menopause eine wichtige Rolle spielt.
Ein zentrales Element dabei sind Ballaststoffe. Sie sind nicht einfach „gesund“ im allgemeinen Sinne, sondern dienen ganz konkret als Nahrungsgrundlage für unsere Darmbakterien. Nur wenn ausreichend Ballaststoffe vorhanden sind, können daraus kurzkettige Fettsäuren wie Butyrat entstehen – Stoffwechselprodukte, die im Körper unter anderem antientzündlich wirken und den Stoffwechsel positiv beeinflussen.
Aktuell wird empfohlen, täglich mindestens 30 Gramm Ballaststoffe aufzunehmen. Das lässt sich besonders gut durch eine pflanzenbasierte Ernährung erreichen – mit Vollkornprodukten, Hülsenfrüchten, Gemüse, Nüssen und Obst.
Zusätzlich ist es sinnvoll, regelmäßig probiotische Lebensmittel zu integrieren – etwa solche, die natürlich lebende Milchsäurebakterien enthalten. Dazu gehören fermentierte Produkte wie Kefir, Kimchi oder Sauerkraut. Diese liefern gezielt nützliche Bakterienstämme wie Lactobacillen, die das Mikrobiom stärken können.
Ebenso wichtig wie der gezielte Aufbau ist aber auch das Vermeiden von schädlichen Einflüssen. Eine stark verarbeitete Ernährung – mit viel Fast Food, Zucker und Zusatzstoffen – kann die Artenvielfalt der Darmflora erheblich reduzieren. Hochindustriell verarbeitete Lebensmittel beeinträchtigen zudem die Darmbarriere und fördern Entzündungsprozesse.
Wir sehen also klare Zusammenhänge zwischen Ernährung, Mikrobiom, hormoneller Balance und allgemeiner Gesundheit – gerade auch im Übergang zu und nach den Wechseljahren.
Wobei tun sich Frauen am schwersten? Gibt es andere Herausforderungen, die häufiger vorkommen?
Ob etwas „am schwersten“ oder „am schwierigsten“ fällt, hängt oft von der persönlichen Lebenssituation ab. Deshalb fragen wir immer ganz konkret: Wie sieht Ihr Alltag wirklich aus?
Wenn zu Hause drei Teenager leben, die am liebsten nur Pasta essen und Gemüse strikt ablehnen, dann bleibt im Alltag wenig Zeit und Energie, um zusätzlich für sich selbst separat zu kochen oder einem eigenen Essrhythmus zu folgen. Das ist völlig verständlich – und eine reale Herausforderung für viele Frauen. Ähnlich sieht es aus, wenn man berufstätig ist und mittags keine Zeit für aufwendige Meal-Prep-Konzepte hat. Was auf Instagram oft mühelos wirkt, ist im Alltag selten so leicht umsetzbar.
Gerade deshalb ist es wichtig, den Druck rauszunehmen. Es muss nicht alles perfekt oder ausgefallen sein. Wer es schafft, möglichst wenig hochverarbeitete Fertigprodukte zu konsumieren, regelmäßig Obst und Gemüse in den Speiseplan einzubauen und bei Kohlenhydraten auf Vollkornprodukte wie Vollkornbrot, -reis oder -nudeln zu setzen, hat bereits enorm viel erreicht – gerade im Hinblick auf das Mikrobiom.
Darüber hinaus kann jede Frau individuell entscheiden, was für sie passt: Ob Naturjoghurt oder Rote-Bete-Typ – beides ist gut. Und wenn es mal nicht anders geht, können auch Probiotika in Kapselform eine sinnvolle Unterstützung sein.
Ab wann empfehlen Sie, zusätzlich etwas für den Darm zu nehmen?
Grundsätzlich gilt: Ein gesunder Darm kann unter normalen Umständen gut über eine ausgewogene Ernährung unterstützt werden – zusätzliche Probiotika sind dann in der Regel nicht notwendig.
Anders sieht es jedoch aus, wenn besondere Belastungen vorliegen. Wenn jemand beispielsweise wiederholt Antibiotika einnehmen musste oder einen schweren Magen-Darm-Infekt hatte – etwa nach einer Reise – dann kann es durchaus sinnvoll sein, gezielt Probiotika einzusetzen, um die Darmflora wieder aufzubauen und zu stabilisieren. In solchen Fällen sprechen wir von klaren Indikationen, bei denen eine vorübergehende probiotische Unterstützung empfehlenswert ist.
Welche Lebensmittel sind besonders gut für Darmbarriere und Mikrobiom?
Ich würde den Begriff „Darmbarriere“ einmal etwas herausgreifen, da er ein spezielleres Konzept beschreibt. Die Darmbarriere umfasst verschiedene Bestandteile – das Mikrobiom ist nur ein Teil davon. Im engeren Sinne verstehen wir unter Darmbarriere die Schleimhautstruktur des Darms, insbesondere die eng miteinander verbundenen Darmzellen. Diese sind durch spezielle Eiweißverbindungen so miteinander verknüpft, dass möglichst wenig unkontrolliert durch die Darmwand dringen und mit dem Immunsystem in Kontakt kommen kann.
Damit diese Schutzfunktion erhalten bleibt, ist es zunächst entscheidend, sogenannte Trigger zu vermeiden – also Substanzen, die die Darmbarriere schwächen können. Dazu zählen etwa bestimmte Zusatzstoffe wie Konservierungsmittel, Süßstoffe oder Verdickungsmittel wie Carrageen - Carrageen ist ein Stabilisator, der in vielen Milchprodukten enthalten ist. Diese wurden wissenschaftlich nachweislich mit einer Schädigung der Darmbarriere in Verbindung gebracht. Aber auch Medikamente wie Ibuprofen oder Diclofenac (Voltaren) können die Darmbarriere beeinträchtigen – das ist vielen nicht bewusst.
Was die Ernährung betrifft, haben wir bereits darüber gesprochen: Eine ballaststoffreiche, pflanzenbetonte Kost fördert nicht nur ein gesundes Mikrobiom, sondern wirkt sich auch positiv auf die Darmbarriere aus. Ebenso spielt eine antientzündliche Ernährung eine wichtige Rolle – dazu gehören unter anderem Omega-3-Fettsäuren und ein möglichst geringer Konsum von stark verarbeiteten Fleischprodukten wie Wurst.
Gibt es konkrete Zusammenhänge zwischen Darmproblemen und Symptomen wie Hitzewallungen oder Stimmungsschwankungen?
Das kann durchaus mit dem zusammenhängen, was wir als PMS kennen – also die Beschwerden, die typischerweise in der zweiten Zyklushälfte auftreten. In dieser Phase verlangsamt sich oft die Darmmotilität, sodass im Darm vermehrt Fäulnis- und Gärungsbakterien wachsen können. Hier sehen wir also einen klaren Zusammenhang zwischen hormonellen Veränderungen und Darmbeschwerden.
Bei den Hitzewallungen handelt es sich um ein deutlich komplexeres Thema, da hier vor allem das vegetative Nervensystem eine Rolle spielt. Zu diesem Zusammenhang gibt es bisher nur wenige Studien. Dennoch kann man sich gut vorstellen, wie eng Darm und Gehirn über die sogenannte Darm-Hirn-Achse miteinander verbunden sind und dass es auch hier einen Austausch gibt. Konkrete wissenschaftliche Belege fehlen aber noch.
Was man auf jeden Fall festhalten kann, wenn man sich mit der Darm-Hirn-Achse beschäftigt, ist die zentrale Rolle des vegetativen Nervensystems – insbesondere des Vagusnervs. Interessant ist auch, dass diese Kommunikation wechselseitig verläuft, aber etwa 90 % der Informationsflüsse vom Darm zum Gehirn gehen und nur etwa 10 % vom Gehirn zurück zum Darm.
Das zeigt, wie bedeutend die Signale aus dem Darm für das Gehirn sind und wie stark sie die Verarbeitung von Reizen beeinflussen können.
Können Sie die Darm-Hirn-Achse bitte etwas genauer erläutern?
Die Darm-Hirn-Achse ist kein physisch sichtbares „dickes Kabel“, sondern ein Modell, das beschreibt, wie das zentrale Nervensystem mit dem sogenannten Darmhirn kommuniziert. Im Darmhirn befinden sich Millionen von Nervenzellen – die Darmmuskulatur ist von einem dichten Netzwerk von Neuronen umgeben, sogar mehr als im Rückenmark.
Dieses Darmhirn steht in ständigem Austausch mit dem zentralen Nervensystem im Schädel. Die Kommunikation erfolgt zum einen über den Vagusnerv, der sehr schnell registriert, was im Darm passiert, und diese Informationen ans Gehirn weiterleitet.
Zum anderen spielen Neurotransmitter eine große Rolle: Im Darm werden viele Botenstoffe gebildet, etwa Tryptophan, eine Vorstufe der sogenannten Glückshormone im Gehirn. Der Darm ist also nicht nur an der Hormonproduktion beteiligt, sondern auch an der Herstellung von Neurotransmittern, die über den Blutkreislauf ins Gehirn gelangen.
Außerdem kommunizieren auch Darmbakterien über Botenstoffe mit dem Gehirn, beispielsweise durch die Produktion kurzkettiger Fettsäuren. Es gibt also verschiedene Wege des Informationsaustauschs zwischen Darm und Gehirn.
Umgekehrt wirkt sich auch das Gehirn auf den Darm aus – etwa über die Stressachse: Wenn wir Stresshormone ausschütten, beeinflussen diese auch direkt die Funktionen im Darm.
Was sind Ihre drei Top-Tipps für Frauen, die Darmprobleme haben und ganzheitlich etwas für ihre Darmgesundheit tun möchten?
Ich glaube, eine Lösung, die jeder Frau gleichermaßen hilft, gibt es nicht. Wichtig ist, dass das Ganze sehr individuell betrachtet werden muss. Wir versuchen deshalb immer, die Hauptsymptome genau zu erfassen – denn es macht einen großen Unterschied, ob es sich um Blähungen, Völlegefühl oder Verstopfung handelt.
Gerade bei Verstopfung spielen Mineralstoffe eine große Rolle, etwa Magnesium. Auch Quellstoffe wie Flohsamenschalen oder Akazienfasern sind wichtig, weil der Darm so in Bewegung bleibt und der Transport der Darminhalte gewährleistet wird.
Für die Unterstützung der Darmbarriere sind Naturstoffe hilfreich, beispielsweise Zink, Glutamin oder bestimmte B-Vitamine. Außerdem spielt natürlich auch das Thema Probiotika eine wichtige Rolle.
Wenn Frauen fragen: Was ist die eine Sache, die ich tun sollte – ist es eher Sport, Ernährung oder etwas anderes?
Wenn Sie sich für eine einzige Maßnahme entscheiden wollen, dann ist es die Ernährung – denn damit können Sie Ihr Darmmikrobiom gezielt pflegen. Wichtig ist, dass Sie ausreichend Ballaststoffe zu sich nehmen und möglichst eine natürliche, unverarbeitete Ernährung wählen.
Das Entscheidende ist, Ihre Darmbakterien mit genügend Pflanzenfasern und Ballaststoffen zu versorgen. Ob Sie dabei Vegetarier sind, sich an das Rainbow-Prinzip halten oder sogar eine ketogene Ernährung bevorzugen, spielt eine eher untergeordnete Rolle – die Variabilität ist hier relativ groß.
Wichtig ist, dass die Grundbausteine stimmen: eine antientzündliche, pflanzenbasierte Ernährung mit möglichst wenig hochverarbeiteten Lebensmitteln. Es gibt also nicht die eine perfekte Ernährung, sondern es kommt darauf an, diese Basis zu berücksichtigen.
Wenn Sie sich für eine einzige Maßnahme entscheiden wollen, dann ist es die Ernährung – denn damit können Sie Ihr Darmmikrobiom gezielt pflegen. Wichtig ist, dass Sie ausreichend Ballaststoffe zu sich nehmen und möglichst eine natürliche, unverarbeitete Ernährung wählen.
Gibt es Feedback von Frauen, dass etwas besonders intuitiv ist und ihnen deshalb leichtfällt oder gut hilft?
Gut, dass Sie „intuitiv“ sagen – das ist wirklich ein wichtiger Punkt. Ich glaube, etwa 80 % der Frauen, die heute zu uns kommen, sind komplett verunsichert von all dem, was sie gehört haben – sei es aus Social Media, dem Internet oder anderen Quellen. Viele bringen auch eine Vielzahl von bunten Tests mit, wie zum Beispiel Nahrungsmitteltests.
Dabei haben sie oft ihre Intuition verloren – ihr Bauchgefühl dafür, was sie wirklich vertragen. Ich denke, es ist wichtig, dass wir wieder dahin zurückfinden: weg von all dem theoretischen Überbau und den aktuellen Trends, die gerade durch die Welt geistern. Stattdessen sollten wir wieder lernen, ganz genau zu spüren, was unser Körper braucht – und das immer abhängig von der hormonellen Phase, in der wir uns gerade befinden.
Das ist, glaube ich, ein ganz entscheidender Punkt, zu dem man zurückkehren sollte.
Und dann wahrscheinlich auch individuell herausfinden, was einem gut tut?
Nicht alles, was als „gesund“ gilt, wird von jedem auch immer gut vertragen. Wir haben viele Patientinnen, die sagen: „Ich esse so viele Ballaststoffe, aber ich habe trotzdem starke Blähungen.“ Manche Menschen vertragen einfach keine sehr hohen Mengen an Ballaststoffen – und dann ist das der falsche Ansatz.
Deshalb ist es so wichtig, zu schauen, was einem persönlich gut bekommt und was man gut verdauen kann – gerade in der jeweiligen hormonellen Phase. Das ist ein ganz wichtiger erster Schritt, statt stur irgendwelchen allgemeinen Regeln oder Trends zu folgen.
Denn eigentlich sollte Essen keine Angst auslösen – aber viele Frauen sind sehr verunsichert und haben sogar Angst vorm Essen.
Was ist das größte Missverständnis rund um Darmgesundheit und Wechseljahre?
Viele Frauen wissen gar nicht, dass das, was sie gerade im Darm erleben, etwas mit den Wechseljahren zu tun haben kann. Die Verunsicherung ist oft groß: „Habe ich jetzt Darmkrebs? Oder stimmt etwas nicht?“ Den Zusammenhang, dass die Wechseljahre nicht nur Hitzewallungen oder Schlafstörungen verursachen, sondern auch den Darm beeinflussen können, nehmen viele so gar nicht wahr.
Außerdem beginnt das nicht erst mit 50. Viele Frauen in der Perimenopause erleben schon hormonelle Schwankungen oder eine Östrogendominanz, die massive Darmprobleme auslösen können. Gleiches gilt auch für Hormonersatztherapien – auch sie können Darmprobleme verursachen.
Das muss nicht bei jeder Frau der Fall sein, bei manchen läuft es super. Aber es ist wichtig, diesen Zusammenhang zu erkennen: Die hormonelle Situation hat einen Einfluss auf den Darm.
Gibt es etwas, das Ihnen zum Thema Wechseljahre und Darmgesundheit besonders am Herzen liegt?
Ich glaube, es ist wichtig zu betonen, dass es bei der Pflege des Darmmikrobioms in den Wechseljahren nicht nur darum geht, Symptome zu lindern. Vielmehr spielt es auch eine große Rolle in der Präventionsmedizin.
In den Wechseljahren wird häufig empfohlen, zur Knochendichtemessung zu gehen, Sport gegen Osteoporose zu machen und das Gewicht zu halten, um das kardiovaskuläre Risiko zu minimieren. Was aber selten besprochen wird, ist die Bedeutung, das Darmmikrobiom zu pflegen – für eine bessere Prävention.
Das, was im Darm passiert, hat erhebliche Auswirkungen – nicht nur auf den Stoffwechsel, sondern auch auf das kardiovaskuläre Risiko, Osteoporose und sogar auf Demenz.
Es gibt ja nicht nur eine Form von Demenz, sondern viele verschiedene. Studien aus Großbritannien vor etwa zwei Jahren haben gezeigt: Patienten, die eine hohe Menge an Ballaststoffen zu sich nehmen und dadurch viele Butyrate – also kurzkettige Fettsäuren – in ihrem Darmmikrobiom bilden, haben weniger kognitive Probleme. Das bedeutet, sie haben ein geringeres Risiko für Demenz als Personen, die eher klassische Fast Food oder industriell verarbeitete Nahrung konsumieren.
Das verdeutlicht, dass es nicht nur auf die Ernährung ankommt, sondern vor allem darauf, was im Darm passiert – also welche Stoffwechselprodukte die Darmbakterien bilden. Ich finde es wichtig, sich diesen Zusammenhang wieder bewusst zu machen: Alles, was wir im Bereich Prävention tun, wirkt letztlich über den Darm. Also, es geht nicht nur um die akuten Symptome. Ein gesundes Mikrobiom ist auch ein wichtiger Baustein für die Präventionsmedizin.
Vielen Dank für das interessante Interview!
Empfehlung
Frauen haben anders Darm
Die besten Strategien für Mikrobiom und Hormonbalance bei Reizdarm, PCOS und Endometriose. Erschienen im GRÄFE UND UNZER Verlag GmbH, Mai 2025.
Zusammenfassung:
Im Interview zeigt Prof. Dr. Seiderer-Nack eindrucksvoll, wie stark hormonelle Veränderungen in der Perimenopause und Menopause den Darm beeinflussen – von Verstopfung über Blähungen bis hin zu Nahrungsmittelunverträglichkeiten oder Histaminintoleranz. Besonders betroffen sind Frauen ab 40, bei denen Veränderungen im Hormonspiegel und Mikrobiom oft ineinandergreifen.
Zentrale Punkte wie die Darm-Hirn-Achse, das sogenannte „Östrobolom“ und zyklusabhängige Ernährungsmuster machen deutlich, dass Beschwerden im Verdauungstrakt keine bloße Stressfolge sind, sondern viel differenzierter betrachtet werden müssen.
Ihre Empfehlung: Statt strikter Ernährungstrends lieber auf die eigene Körperwahrnehmung hören – und kleine, alltagstaugliche Veränderungen vornehmen. Eine ballaststoffreiche, möglichst unverarbeitete Ernährung sei dabei ebenso hilfreich wie gezielte Unterstützung durch Probiotika oder natürliche Darmhelfer.
Das Fazit: Darmgesundheit und hormonelle Balance gehören zusammen – und gerade in den Wechseljahren ist es höchste Zeit, Frauen mit ihren Symptomen ernst zu nehmen und individuell zu begleiten.